The Farther Shore
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Blasse, verwaschene Farben prägen viele der Bilder in diesem Buch, dessen Fotografien oft mit Unschärfen arbeiten. Das wirkt auf dem matten Papier manchmal ein bisschen wie mit Aquarellfarben gemalt. Oft lässt sich das Abgebildete nur schemenhaft erahnen. Handelt es sich bei der graugrünen Fläche nun wirklich um Wasser oder ist das doch eine Wiese? Julia Borissova (geb. 1968) hat in einem Gebiet an der Wolga fotografiert, welches in den 1930er Jahren für ein großes Hydroprojekt der UdSSR teilweise geflutet wurde. „800 villages and towns, 3 cities, 5 monasteries, hundreds of churches and old cemeteries have gone under water“, so die Fotografin in ihrem kurzen Text am Ende des Buches.
Bilder einer Reise durch Zeit und Raum
Die Bilder erzählen von einer Reise, scheinen oftmals aus einem fahrenden Zug oder einem Auto aufgenommen zu sein. Sie zeigen Blicke auf Landschaften, die immer wieder durch kahle Äste im Vordergrund geprägt werden. Regelmäßig sind in die Bildfolge Porträts eingestreut. Offenkundig solche neueren Datums, die in Farbe fotografiert sind, aber auch solche, die aus alten Alben zu stammen scheinen.
Viele der alten Fotografien weisen Beschädigungen auf, die nicht wegretuschiert wurden, sondern den Objektcharakter dieser Abbildungen betonen, da sie quasi die Bildträger mitabbilden. Es fällt auf, dass diese Porträts aus vergangenen Zeiten nie auf einer Doppelseite mit den neu erstellten Porträts auftauchen. Die Seite dazwischen, die weißen Flächen lassen Raum für die konzentrierte Betrachtung der abgebildeten Personen und deuten zugleich auf den zeitlichen Abstand zwischen der Entstehung der Aufnahmen hin. Denn diese faszinierende Reise durch Zeit und Raum, welche das Buch dem Betrachter ermöglicht und auf ganz eigenwillige Weise visualisiert, erfolgt behutsam. Trotz aller Sprünge, zeitlich vor und zurück oder auch geografisch in jeglicher Richtung (mehr als zwei nicht weiter erklärte Übersichtskarten, eine davon eine Zeichnung auf einem Notizblock, gibt es nicht zur räumlichen Orientierung), sucht Borissova selbst in den Bildern von aus dem Wasser ragenden Kirchtürmen nicht die Sensation.
Mitteilungen durch Fotografien
In ihrem Text zitiert Julia Borissova Berichte, dass manche Bewohner der Gegend die Umsiedlung verweigerten und lieber während der Flutung ihrer Heimatorte starben. Vielleicht verändert das nachträglich den Blick auf die Menschen, die einen von den manchmal durch Alterung nur noch schemenhaft erkennbaren Abzügen anschauen. Aber die Fotografin ist offensichtlich nicht auf der Suche nach Momenten, die eine Katastrophe möglichst beeindruckend und überwältigend bebildern. Das Buch ist viel mehr eine Meditation über das Vergehen der Zeit, die unvermeidlichen Veränderungen und die Möglichkeiten der Fotografie uns etwas darüber mitzuteilen. So vage und ungenau diese Mitteilungen auch sein mögen. Und so sehr sie sich erst im Kopf des einzelnen Betrachters zusammensetzen und deshalb ganz individuell ausfallen mögen.
© Julia Borissova |
So handelt es sich bei „The Farther Shore“ nie um ein mit Fakten gespicktes Geschichtsbuch oder um die Gegenüberstellung „So war es damals – so ist es heute“. Eher schon geht es um all die unendlichen Möglichkeiten zwischen diesen zeitlichen Polen. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass die Kirchen, welche die Fotografin abbildet, so etwas wie die Mittler zwischen den Zeiten sind. Bilder von kirchlichen Innenräumen mit Wandgemälden gehören neben den „modernen“ Porträts zu den wenigen Fotografien, die klar und in kräftigen Farben abgebildet sind. Aber auch hier überwiegt nicht ein Gefühl der ewigen Unvergänglichkeit. Abgeblätterte Farbe macht das Gesicht einer der Heiligenfiguren unlesbar. "Das andere Ufer", so die deutsche Übersetzung des Buchtitels, lässt sich nicht wirklich erreichen. Was bleibt sind notorisch zerbrechliche und in dauernder Umwandlung begriffene Erinnerungen.
Während des Fotobuchfestivals in Wien war das hier vorgestellte Buch an meinem Stand eines derjenigen, welche die meiste Aufmerksamkeit auf sich zogen. Vielleicht lag das ja an der „Verpackung“, den mit roten Gummis auf dem Buch festgehaltenen Kartons, die fast so etwas wie einen Schuber bilden. Das könnte an ein gebündeltes Konvolut an Dokumenten aus einem Archiv erinnern. Aber entscheidend war natürlich der Inhalt, der viele der Betrachter lange mit dem Buch verweilen ließ. Es gab ganz unterschiedliche Weisen, das Gesehene einzuordnen und divergierende Interpretationen. Aber die meisten, welche durch das Buch blätterten, waren eindeutig fasziniert.
Einband Innen |
Das Buch hat es im diesjährigen Dummy-Wettbewerb in die Auswahl der zur Zeit in Kassel ausgestellten Werke geschafft. Für diejenigen, welche die Fahrt zum Festival nach Kassel nicht antreten, gibt es im Internet die Gelegenheit, die meisten der Dummies in Augenschein zu nehmen. Nutzen Sie doch die Möglichkeit, selber einen intensiven Blick in Julia Borissovas Buch zu werfen. Wahrscheinlich kommen Sie ja zu ganz anderen Schlussfolgerungen als ich. Und wenn Sie das Buch mögen, gibt es zur Zeit noch die Möglichkeit ein Exemplar bei der Fotografin zu erwerben. Kein Klicken durch Dateien am Monitor ersetzt das Blättern durch die Seiten des Buches, das Gefühl beim Abziehen der roten Gummis vor dem Eintauchen in eine wundervoll beschriebene Welt.
Fakten:
Julia Borissova: „The Farther Shore“, 2013
Eigenverlag
ohne ISBN
152 Seiten, 85 Abbildungen in Farbe und S/W, 22 cm x 15,5 cm, Paperback zwischen zwei mit breiten Gummis fixierten Kartons
Auflage von 100 handnummerierten und signierten Exemplaren
Website der Fotografin
Blick in den Dummy
Submitted by Hermann Lohss on 22. October 2013 - 12:29