Finding Vivian Maier
FVM_VM Self Portrait Round Mirror Repeating Image_©Vivian Maier_Maloof
In dem Roman „Torture the Artist“ von Joey Goebel (deutschsprachige Ausgabe bei Diogenes unter dem Titel „Vincent“) wird der Protagonist zu einem großen Künstler, da ihm das eigene Leben möglichst schwer gemacht wird. „Wahre Kunst entsteht aus Leiden“ könnte das Motto sein, unter dem ihn eine Medienfirma durch Quälerei zu einem möglichst qualitätsvollen und produktiven Schriftsteller, Songwriter, Drehbuch-, Fernseh- und Bühnenautoren macht.
John Maloof hat aus Vivian Maier posthum eine berühmte Fotografin gemacht, nachdem er auf einer Auktion in New York auf einige ihrer Negative stieß und sich anschließend konsequent auf die Suche nach ihrem Nachlass machte. Aber werden Künstler überhaupt gemacht? Verdankt sich der Ruhm Vivian Maiers nicht einzig ihren Leistungen als Fotografin, ihren Bildern, die im Film immer wieder gezeigt werden? Inwieweit sollte man als Betrachter von Kunstwerken überhaupt die Biografie des Künstlers, sei es nun ein Maler, ein Autor oder wie in diesem Fall eine Fotografin, kennen? Die Betrachtung des autonomen Kunstwerks ganz unabhängig von seiner Entstehungsgeschichte und den Produktionsbedingungen ist für manche das anzustrebende Ideal.
Leben und Fotografisches Werk
Der hier vorgestellte Film „Finding Vivian Maier“ schildert zum einen Maloofs Bemühungen, dem fotografischen Werk der bis vor einigen Jahren noch völlig Unbekannten die nötige Anerkennung zu verschaffen. Bekannte Fotografen wie Joel Meyerowitz und Mary Ellen Mark werden als Zeugen für die Qualität der Arbeiten Vivian Maiers herangezogen. Zum anderen machen sich die Autoren des Films auf die Reise zu Zeitzeugen, die Vivian Maier gekannt haben, um nicht nur über die im Film gezeigten Werke der Fotografin ein Bild von ihrem Leben zu entwerfen. So finden sich mehr und mehr Puzzleteile mit bruchstückhaften Einblicken in die Vita Vivian Maiers.
FVM_Director John Maloof_Shooting Interview_Ravine Pictures, LLC 2013 |
Am Ende des Films weiß der Zuschauer schließlich eine ganze Menge über die 2009 verstorbene Hauptfigur dieses Dokumentarfilms. Und man hat viele von den Dingen gesehen, die sie in ihren Kisten und Koffern gesammelt hat. Aber: was weiß man wirklich? Zahlreiche Widersprüche verwickeln den Betrachter letztlich in ein Gespinst von undurchdringlichen Aussagen und Vermutungen. Wer mag, kann sich für psychologische Erklärungen an ihren Bildern orientieren. Aber sind das wirklich ihre Bilder? Wer entscheidet, was im Film und den Galerien gezeigt wird und was im Archiv mit den unzähligen Negativen (mehr als 150.000 sind wohl vorhanden) im Dunkeln bleibt? Wie hätte Vivian Maier ihre Bilder selber als Print sehen wollen? Welche Auswahl hätte sie selber für eine Ausstellung getroffen?
FVM_Man Being Dragged by Cops Night_©Vivian Maier_Maloof Collection |
Der Film interessiert sich nicht für ein schlüssiges Bild der Fotografin. Und wahrscheinlich würde der Versuch ein solches zu entwerfen auch an den widersprüchlichen Aussagen der Zeitzeugen und der Unmenge disparaten Materials scheitern. So entscheiden sich Maloof und Co-Regisseur Siskel dafür, das Geheimnis um Vivian Maier noch ein bisschen zu vergrößern, indem sie den Betrachter auf eine Reise mitnehmen, die eine Frage nach der anderen aufwirft und kaum eine beantwortet.
TV-Dramaturgie
Manches mag an der TV-Dramaturgie des Films zu bemängeln sein. Und Filmbilder für die große Leinwand sehen eigentlich anders aus. Das macht sich besonders krass zu Beginn des Films bemerkbar, als die ersten Zeitzeugen auftreten. Aber vieles ist auch mit erkennbarem Humor und Geschick montiert, ergibt im Verlauf des Films mehrere Spannungsbögen, die teilweise parallel geführt werden.
Fragen über Fragen
Es gibt zahlreiche Selbstportraits im Werk der Fotografin und einige davon werden in diesem Film gezeigt. Aber wen zeigen diese Bilder wirklich? War Vivian Maier nun die gequälte, unter Isolation leidende Seele mit dem dunklen Familiengeheimnis? Oder eine durch den Gebrauch der Kamera mit ihrer Umwelt und unzähligen Menschen in Kontakt tretende, durchaus selbstbewußte Persönlichkeit? Oder die fast lebenslang tätige, exzentrische Künstlerin, die sich nie traute mit ihren Werken an die Öffentlichkeit zu gehen? Oder einfach eine amerikanische Nannie, die zugleich verdammt viel und gut fotografierte? Fragen über Fragen!
Fakten:
John Maloof, Charlie Siskel: „Finding Vivian Maier“, USA 2014
NFP (Filmwelt)
Dokumentarfilm mit einer Laufzeit von 1 Stunde 24 Minuten
Presseheft zum Film bei www.filmverleih.de
Link zu Kinos in Deutschland, in denen der Film zur Zeit läuft: www.kino.de
Submitted by Hermann Lohss on 4. August 2014 - 22:56