Seelchens gute Tat
Fotobücher mit eingeklebten Originalfotografien waren im 19. Jahrhundert keine Seltenheit. Die noch nicht vorhandenen bzw. mangelhaften Drucktechniken zur Wiedergabe von Fotografien waren einer der Gründe dafür. Für kleinere Auflagen und Künstlerbücher hat sich diese Vorgehensweise in Einzelfällen bis heute erhalten. Ein Beispiel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts soll hier vorgestellt werden: „Seelchens gute Tat“ von Lulu Meusser, erschienen bei Hermann Meusser in Berlin.
"Ein Märchen"
Wie der Untertitel „Ein Märchen“ bereits andeutet, richtet sich das Buch auch an Kinder. Lulu Meusser hat es ausdrücklich ihren „lieben Kindern gewidmet“. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein kleines Mädchen. Seine Mutter ist gestorben und nun hat es keinen anderen Wunsch, als die geliebte Mutter im Himmel zu besuchen. Sie stirbt daher quasi aus Sehnsucht selber an einer schweren Krankheit. Da das Mädchen aber keine gute Tat vorweisen kann, wird ihr der Eintritt ins himmlische Paradies verwehrt, solange sie nicht von einem anderen Menschen eine Stunde Zeit von dessen Leben geschenkt bekommt. Aber niemand lässt sich von ihrem Bitten dazu bewegen, ihr diese Stunde zu geben, bis sie an ein altes "Mütterchen" gerät, das ihr die Stunde mit Freuden schenkt.
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Aber statt jetzt eilends zum Himmel zurückkehren zu können, um die so ersehnte Stunde mit ihrer Mutter zu verbringen, begegnet sie einer verzweifelten Frau mit ihrem todkranken Kind, dem genau diese eine Stunde fehlt, um noch gerettet werden zu können. Und da schenkt die Kleine großherzig ihre soeben gewonnene Stunde gleich wieder her. Und siehe da, Petrus der Himmelspförtner lässt sie dieses Mal ein, die gute Tat ist ja vollbracht. Dieses Ende sei hier verraten, da der Ausgang der Geschichte sowieso nicht wirklich überraschend kommt, eher vielleicht schon die Hartherzigkeit des Himmelswärters zuvor. Der Duktus des letzten Satzes entspricht in etwa der Sprache des ganzen, stark religiös konnotierten Märchens und sei deshalb zitiert: „Und schon tat sich die hohe Himmelstür auf vor dem Kinde, und Petrus selbst trug es auf seinen Armen hinein in die Herrlichkeit und Seligkeit des himmlischen Lebens.“
Das Märchen habe ich hier relativ ausführlich wiedergegeben, da auch im Buch der Text zunächst dominiert. Aber es finden sich zur Illustration zusätzlich 15 Fotografien, auf die nun näher eingegangen werden soll. Deren oberer Rand ist jeweils auf der Seite festgeklebt, sie lassen sich daher von unten ein Stück weit anheben. Die Bildseiten sind mit einem grauen Rechteck bedruckt, dass etwas größer als das Format der Fotografien ist, so dass sich im montierten Zustand der Eindruck eines schmalen Rahmens um das jeweilige Bild ergibt. Das Rechteck trägt mittig die Nummerierung des jeweiligen Bildes.
Idyllischer Garten
Auf allen Fotografien findet sich ein Brunnen mit einem kleinen Becken, der sich in einer großzügigen Gartenanlage befindet. Vor dieser Kulisse spielen sich die Begegnungen des kleinen Mädchens mit den anderen Menschen ab. Die Illustrationen beschränken sich auf diesen Teil der Geschichte, die Szenen mit Petrus im Himmel werden nicht visualisiert. Manches an den Bildern erinnert mich ein bisschen an die Allegorien, die im 19.Jahrhundert Julia Margaret Cameron mit Familie, Freunden und Hausangestellten inszenierte. Die Symbolik des laufenden Wassers am Brunnen ist offensichtlich. Aber beim Auftauchen der Mutter mit ihrem todkranken Kind fühlte ich mich auch unversehens an expressionistische Stummfilmproduktionen erinnert, obwohl die liebliche Umgebung des Gartens dem ein wenig entgegenläuft.
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Großaufnahmen der Personen fehlen völlig. Erzählerisch haben die Bilder für den Fortgang der Geschichte nur bedingt etwas zu bieten. Vielleicht wirken sie dafür insgesamt auch zu idyllisch. Aber dieser Kontrast zur Verzweiflung des Mädchens auf der Suche nach der Lebensstunde führt dann eigentlich schon wieder zu einem interessanten Effekt. Und vielleicht ist dieser Garten, in dessen Hintergrund sich auf dem letzten Bild eine Villa entdecken lässt, durchaus als eine Vorahnung aufs himmlische Paradies gedacht. Ganz verwegen ließe sich die Villa dann sogar als Symbol fürs Ankommen zuhause interpretieren.
Wenig Hintergrundinformationen
Informationen zur Autorin des Buches, von der mutmaßlich auch die illustrierenden Fotografien stammen, habe ich nicht finden können. Die Namensgleichheit zwischen Autorin und Verlag könnte dafür sprechen, dass hier ein verwandtschaftlicher Zusammenhang besteht, vielleicht die Ressourcen des in Familienbesitz befindlichen Verlages für eine kleine, private Produktion genutzt wurden. Bei Hermann Meusser in Berlin erschienen nach meiner, bisher nur oberflächlichen Recherche, vor allem Bücher aus dem Themenbereich der Zahnmedizin. Da der Verlag seit 1934 in Leipzig residierte, schätze ich, dass dieses Buch, das leider keine Angaben zum Erscheinungsjahr enthält, aus den 1920er oder von Anfang der 1930er Jahre stammt.
Umschlag: Vorder und Rückseite |
Bei beiden mir vorliegenden Exemplaren sind die Fotografien vom Rand her mehr oder weniger stark ausgesilbert. Auch die gegenüberliegenden Textseiten sind jeweils in Mitleidenschaft gezogen und fleckig. Während der packpapierartige Umschlag samt dem (mit dem gleichen Papier bezogenen) Kartonschuber schmucklos daherkommt, ist der hellbeige Leineneinband mit geprägter, goldfarbiger Schrift und Linien verziert. Der obere Schnitt ist zudem vergoldet.
Eigentlich handelt es sich beim vorgestellten Buch eher um eine Kuriosität. Aber gerade solche Zufallsfunde vom Flohmarkt oder im Internet machen die Welt der Fotobücher so vielseitig und setzen mich immer wieder in Erstaunen.
Fakten:
Lulu Meusser: „Seelchens gute Tat“, Berlin o.J.
Hermann Meusser
62 Seiten, 15 eingeklebte Originalfotografien, 21,5 cm x 16,5 cm