Fahrende
Die letzten drei Wochen fand auf dem Cannstatter Wasen wieder das alljährliche Frühlingsfest statt. Die Dirndl- und Lederhosendichte steigt dann rund um Stuttgart (und selbst noch in Tübingen) erheblich an. Und als Benutzer der Regionalzüge ist man abends mit mehr oder weniger alkoholisierten Mitreisenden konfrontiert, die sich auf die ein oder andere Weise des auf dem Fest Genossenen entledigen. Aber man kann natürlich auch einen ganz anderen Blick auf ein solches Event werfen.
Fotografien von Schaustellern
Lillian Birnbaum (geb. 1955) tut das in ihrem Buch „Fahrende“, in dem sie Fotografien von Schaustellern und Zitate aus Gesprächen mit diesen herumreisenden Unternehmern und ihren Angestellten versammelt. Da geht es also weniger um die Besucher von Volksfesten und Jahrmarktsveranstaltungen und die Auswüchse in deren Verhalten, sondern um die Betreiber von modernen Fahrgeschäften, altmodischen Karussels, aber auch von Los- und Schießbuden.
Eigentlich gibt es eine ganze Menge Dinge, die mich an diesem Buch stören: Da wäre der Umschlag, der nicht so ganz zum eigentlich nüchternen Schwarz-Weiß der Abbildungen passt. Auch der Druck des Buches kann mich mit seiner Rasterung und dem manchmal seltsamen Gegensatz zwischen flauen Bildern und solchen mit überstarken Kontrasten nicht überzeugen. Aber letzteres liegt vielleicht auch an den Vorlagen, denn manche der abgebildeten Fotografien zeigen auch überdeutlich Eingriffe in der Dunkelkammer wie z.B. das Abwedeln von Gesichtspartien.
Aber ich hätte das Buch nicht zur Vorstellung hier ausgewählt, wenn ich nicht andererseits von manchen Facetten der Publikation ziemlich angetan wäre. Schließlich enthält Birnbaums Buch einige wirklich starke Bilder: Porträts der so unterschiedlichen Schausteller in ihrer Arbeitsumgebung, ein verzweifelt trauriges Bild mit der Bude „Lustiges Ballwerfen“ oder die Krake des Octopus vor einem grau-schwarzen Wolkenhimmel. Man sieht Bilder vom Auf- und Abbau der Vergnügungsattraktionen. Die sind fast alle etwas melancholisch angehaucht und zeugen gleichzeitig, wie die anderen Bilder auch, von einer gewissen Distanz der Fotografin. Lillian Birnbaums Bilder haben nichts Anbiederndes an sich und vermeiden zugleich alles Spektakuläre. Und trotzdem sind sie ein Blick hinter die Kulissen, was für einige der Bilder wörtlich zu nehmen ist.
Geschichten in und zwischen den Bildern
Im Anschluss an die Bilder findet sich ein Verzeichnis der Abbildungen, in dem die Aufnahmeorte der Fotografien vermerkt sind. Dazu vielleicht noch der Name des Fahrgeschäfts oder ein weiterer kurzer Hinweis. Aber die wirklichen Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, liegen in und zwischen den Bildern. Und in den begleitenden Texten, die Gesprächen mit den Schaustellern entnommen sind. Die sind nicht alle politisch korrekt, vor allem, wenn es um die immer wieder betonte Abgrenzung von den „Zigeunern“ geht. Aber trotzdem zählen diese Zitate zu den Pluspunkten dieses Buches, indem sie einen ausschnitthaften, zusätzlichen Blick in die Lebenssituation dieser Menschen erlauben. Widersprüche zwischen einzelnen Aussagen sind da nicht ausgeschlossen. Aber diese Bandbreite an Sichtweisen ist zugleich auch erhellend und vermeidet eine Gefahr, die Ingrid Puganigg in ihrem kurzen, für mich manchmal etwas kryptischen Einleitungstext anspricht: „ Jemanden zu beschreiben bedeutet für mich, ihn des Einmaligen zu berauben.“
Umschlag: "Vier Frauen. Portraits von Lillian Birnbaum", Edition Braus 1992 |
Lillian Birnbaum dürfte am ehesten durch ihr Buch „Vier Frauen. Portraits von Lillian Birnbaum“ mit Aufnahmen von vier renommierten deutschen Schauspielerinnen bekannt sein. Sunnyi Melles, Barbara Sukowa, Hanna Schygulla und Katharina Thalbach fotografierte sie für dieses 1992 in der Edition Braus erschienene Buch. Eigentlich aber ist "Fahrende" das für mich bei aller Unvollkommenheit und Mängel interessantere Buch. Die von Hand nummerierten Exemplare sind zumeist auch von Lillian Birnbaum signiert.
Fakten:
Lillian Birnbaum: „Fahrende“, Wien/Berlin, 1984
Medusa Verlags GmbH
ISBN: 3-85446-0961
144 Seiten, 62 S/W-Abbildungen, 21,5 cm x 27 cm
Auflage von 1500 nummerierten Exemplaren
Website der Fotografin und Filmproduzentin: www.lillianbirnbaum.com