Zuckerblau

Autor(en): 
Svetlana Mychkine: "Zuckerblau", 2012

Eines der Bücher, das bei meinem Stand auf dem Wiener Fotobuchfestival viel Beachtung bei den Besuchern fand, möchte ich hier vorstellen. Es handelt sich um Svetlana Mychkines „Zuckerblau“, ihre Abschlussarbeit an der FH Dortmund, die nicht nur aus den Prints für die Ausstellungswand besteht, sondern auch in Buchform existiert. Eine Auflage von 25 + 5 Exemplaren hat Mychkine (geb. 1989) von diesem Buch erstellt.

Keine Erwachsenen

Erwachsene tauchen in den Bildern als reale Personen nicht auf. Stattdessen finden sich Kinder und Jugendliche in Einzel-, Doppel- oder Gruppenporträts. Und dazu die Umgebung und die Räume, in denen diese Kinder leben: Schlaf- und Speisesäle, Flure, Gemeinschaftsräume. Begegnet ist die Fotografin ihnen in russischen Heimen für (Sozial-)Waisen.

Ein Zitat von Maxim Gorki zum Thema „Mutter“ ist den Bildern vorangestellt. Und das macht die Leerstelle in diesen Bildern von vornherein deutlich. Genau wie sie auch durch die Madonnenbilder, die sich an den Wänden mancher der abgebildeten Räume finden, betont wird: Den Kindern fehlt das Zuhause einer Famlie, eine Mutter in ihrer Nähe. Eine der Fotografien zeigt das ikonenhafte Bild einer Madonna mit ihrem Kind, das fast direkt neben einem weißen Erste-Hilfe-Kasten mit rotem Kreuz hängt. Auch so kann eine Rollenbeschreibung aussehen. Oder um Gorki zum Stellenwert der Mutter zu zitieren: "Die Tatsache, dass sie nicht da ist, erhebt sie in meinen Träumen immer höher;"

© Svetlana Mychkine

 

© Svetlana Mychkine

Einband aus Velours

Die Farbigkeit der Bilder und ihre Textur sind verführerisch und manchmal fast so samten wie der Einband des Buches aus Velours, der sich mit seinem Flor in die Hand einschmeichelt. Ein bisschen soll dieser auch Erinnerungen an Familienalben wecken. Aber die meist grünen Wände der gezeigten Räume vermitteln zugleich auch etwas ganz anderes, nämlich die kühle Zweckmäßigkeit einer abwaschbaren Umgebung. Das gilt auch für die pflegeleichten Bodenbeläge von Fluren und Zimmern, die offensichtlich ihre besten Tage schon hinter sich haben. Sehr kindgerecht ist diese Umgebung nicht: Tische in Reih und Glied, nur wenige Bilder an den Wänden und selbst die Bibliothek versteckt die Hefte und Bücher hinter Glas und in Pappschubern mit der Anmutung von Aktenordnern. Trotzdem hat das nichts mit den Bildstrecken zu tun, die Anfang der 1990er Jahre die Menschen aufschreckten, als zahlreiche Fotojournalisten in den in Auflösung begriffenen Ostblock fuhren, um möglichst schockierende Bilder von Waisenhäusern oder Behindertenheimen nach Hause zu bringen.

© Svetlana Mychkine

Svetlana Mychkine ließ sich für ihre Beobachtungen und die dann folgenden Aufnahmen Zeit. Sie wohnte in den Heimen und nahm zunächst Kontakt zu den Kindern und Jugendlichen auf, ehe sie mit der eigentlichen fotografischen Arbeit begann. Ich denke, den Bildern kann man dies ansehen. Dabei sind die meisten der entstandenen Porträts wohl von beiden Seiten bewußt inszeniert. Sie balancieren auf einer schmalen Linie zwischen Natürlichkeit und offensichtlichen Posen, ohne aus dem Gleichgewicht zu geraten. Und sie lassen ahnen, dass diese Kinder und Jugendlichen den öffentlichen Räumen ihres Aufwachsens eine ganz individuelle Innenwelt entgegensetzen. Vielleicht ist das verantwortlich für den von mir zunächst als Melancholie interpretierten Ausdruck im Gesicht vieler der Porträtierten, eine gewisse Distanziertheit, die vielleicht auf einen Rückzug in sich selbst hindeutet. Aber wie immer sollte man vorsichtig mit solchen Zuschreibungen und Interpretationen von Gefühlszuständen aufgrund von fotografischen Abbildungen sein. Viele Betrachter des Buches in Wien, sahen diese Porträts ganz anders.

Stringente Abfolge

Mychkine beschränkt sich bei der Anordnung der Bilder im Buch auf einfache Mittel. Auf die direkte Gegenüberstellung von Bildern auf einer Doppelseite wird verzichtet. Meistens sind die Bilder mit einem weißen Rand versehen, manchmal gehen sie über zwei Seiten, in seltenen Fällen sind sie randlos über beide Seiten abgedruckt. Aber diese Zurückhaltung in der Gestaltung, der bewusste Verzicht auf die heute in manchen Fällen exzessiv genutzten Möglichkeiten des Layouts, bedeuten nicht, dass die Anordnung und Folge der Bilder nicht mit großer Sorgfalt vorgenommen wurde.  Die stringente  Abfolge der Porträts, der Aufnahmen der Innenräume und der seltenen Außenansichten verrät das genauso, wie die offensichtliche Farbdramaturgie, die neben dem durch die Farbe der Wände vorgegebenen Grundton deutliche rote Signale setzt.

© Svetlana Mychkine

 

© Svetlana Mychkine

"Gute Aussichten"

Eigentlich ist diese Arbeit für die Fotografin, die damit Preisträgerin beim Wettbewerb „Gute Aussichten“ wurde, jetzt abgeschlossen, auch wenn eventuell weitere Veröffentlichungen in Buchform noch eine Option sind. Aber Svetlana Mychkine arbeitet bereits an den Vorbereitungen eines Nachfolgeprojekts. Dabei wird es um die Situation der Heranwachsenden nach dem Auszug aus dem Heim gehen. Mychkine schreibt davon zum Abschluss ihres kurzen Textes im Buch: „Die soziale Integration der Jugendlichen nach der Entlassung aus einer staatlichen Einrichtung stellt ebenfalls ein großes Problem dar. Nach Angaben staatlicher Stellen integrieren sich nur 10 Prozent der jungen Erwachsenen erfolgreich ins Leben und können zuckerblau in die Zukunft blicken“.

Zuckerblau, der Titel des Buches, das könnte eine kindliche Wortneuschöpfung sein. Eine Wortkombination, die etwas von der Sehnsucht nach Süße und weitem Himmel verrät, die in den staatlichen Einrichtungen, die noch immer vom kollektivistischen Geist früherer Tage zu erzählen scheinen, eher nicht zu erfüllen ist. Zuckerblau könnte also als Chiffre für die Träume dieser manchmal an der Kamera vorbei ins Weite blickenden Kinder und Jugendlichen stehen. Träume, die sich wahrscheinlich in vielen Fällen so schnell auflösen wie Zucker in Wasser.

 


 

Fakten:

 

Svetlana Mychkine: „Zuckerblau“, 2012

92 Seiten, 43  Abbildungen in Farbe, 25,5 cm x 20,5 cm

Hardcover in Velours gebunden, mit montierter Fotografie und geprägtem Titel

Auflage von 25 Exemplaren + 5 Exemplare AP

von Hand nummeriert und signiert

 

Website von Svetlana Mychkine: www.svetlana-mychkine.com