Beschreibung eines Dorfes

Eigentlich schaue ich bei Besuchen auf Flohmärkten und in Antiquariaten nur selten in Kisten und Regale mit Taschenbüchern. Zumeist fällt der Blick eher auf die großformatigen Titel, da hier die Chance auf einen Treffer im Bereich Fotobuch doch erheblich größer ist. Aber es lohnt sich ab und zu auch von dieser Regel abzuweichen. So habe ich beim letzten Bücherfest in Tübingen eher zufällig das hier beschriebene Buch entdeckt.

Es handelt sich um das Insel Taschenbuch Nr. 665. Es enthält den Text „Beschreibung eines Dorfes“ von Marie Luise Kaschnitz, ursprünglich 1966 erschienen als Band 188 in der Edition Suhrkamp. Kaschnitz schildert hier das Dorf Bollschweil, in dem sie einen Teil ihrer Jugend verbracht hat. Das tut sie in Form der Beschreibung von 21 möglichen, zukünftigen Arbeitstagen, die der Darstellung des Dorfes gewidmet sind. Geschichte und damalige Gegenwart der Ortschaft, objektivierende Schilderungen und persönliche Erinnerungen laufen dabei im Text neben- und ineinander.

Insel Taschenbuch

In der hier vorgestellten Ausgabe als Insel Taschenbuch wird dieser Text begleitet von Fotografien Michael Grünwalds. Dieser hatte in den Jahren 1979 -1982 ungefähr 8000 Fotografien in dem nahe bei Freiburg und der französischen Grenze gelegenen Ort aufgenommen. Für dieses Buch stellte er 65 davon in den Kapiteln „Die Menschen“, „Die Mauern“, „Die Toten“, „Die Ernte“, „Der Winter“ und einer Einleitungssequenz vor dem Text zusammen.

Diese Bilder bieten bei weitem mehr als eine illustrative Beschreibung des Texts. Manche der Aufnahmen scheinen zwar mit Teilen des Texts direkt zu korrespondieren. Andere Sequenzen haben aber ein ganz eigenes Leben. Vielleicht ist Grünwalds Behandlung des Themas dunkler und kälter. Auch bei Kaschnitz lässt sich nicht ein Übermaß an Heimeligkeit und rührseliger Erinnerung ausmachen, aber Grünwalds Übersichtsbilder zum winterlichen Ort, umgeben von kahlen Weinbergen und Obstbaumwiesen, wirken vielleicht doch eine Spur düsterer. Die nur teilweise aus dem Dunkel aufscheinende Treppe am Ende des Kapitels „Die Toten“ und selbst die Erntebilder sind fast allesamt in dunklen Braun- und Blaugrautönen gehalten. Einzelne aufleuchtende Rottöne im Kapitel „Die Menschen“ oder das orange lodernde  Erntefeuer betonen diese meist monochrome Düsternis eher noch.

Apokalyptische Vision

Kaschnitz lässt ihren Text mit einer apokalyptischen Vision enden, die vielleicht durch die Erwähnung von Fischen, welche in dem überschwemmten Ort den Taufstein der Kirche „umspielen“, etwas gemildert wird. Grünwald  beschließt seine Bildfolge mit einer Aufnahme des dunklen, verschneiten Friedhofs. Die zusammengekauert erscheinenden Kreuze und Grabmale werden darin fast vom winterlichen Wald geschluckt. Menschen sind da schon lange nicht mehr in seinen Bildern aufgetaucht.

Es gibt eine weitere Ausgabe dieses Textes, die mit Fotografien von Michael Grünwald illustriert ist. Allerdings wurden für dieses als „Lizenzausgabe mit Genehmigung des Insel Verlages“ beim Piper Verlag erschienene Buch nur 16 Fotografien Grünwalds ausgewählt. Diese können in ihrer losen Folge im Laufe des Textes kaum über eine illustrierende Wirkung hinausgehen. Schade! Eine solch großformatigere Ausgabe mit einem festen Einband wäre mit dem kompletten Bildessay Grünwalds bestimmt ein Gewinn gewesen. So ist die originale Taschenbuchausgabe bei weitem vorzuziehen. Aber Vorsicht bei der Bestellung: die neuere Ausgabe als Insel Taschenbuch mit der Nummer 3440 enthält die Fotos von Michael Grünwald nicht!

Fakten :
 

Marie Luise Kaschnitz : „Beschreibung eines Dorfes“, Frankfurt am Main, 1983
Insel Verlag, insel taschenbuch 665
ISBN : 3-458-32365-1
Taschenbuch mit 170 Seiten, 65 oft doppelseitige Abbildungen in Farbe, 18 cm x 11 cm

und

Marie Luise Kaschnitz : „Beschreibung eines Dorfes“, München, 1986
R. Piper Verlag
ISBN : 3-492-03017-3
84 Seiten, 16 Abbildungen in Farbe, 24,5 cm x 21 cm

Link zu einem Artikel der Badischen Zeitung zu einer Ausstellung mit Fotografien Michael Grünwalds im Jahr 2011 :

http://www.badische-zeitung.de/bollschweil/damit-geschichte-lebendig-bleibt--51336622.html